Wenn ein Kind eingeschult wird, dann erwartet man, dass es nun lesen und schreiben (und wohl auch rechnen) lernt. So vielfältige Fragen darüber hinaus auch an die Grundschule gestellt werden - diese Ziele sind sicherlich ganz zentrale Anliegen des ersten Schulunterrichts. Die Beobachtung der gegenwärtigen Situation zeigt jedoch eine deutliche Zunahme von erheblichen Schwierigkeiten beim Erlernen von Lesen und Schreiben bei vielen unserer Kinder - die "Legasthenie" - Diskussion markiert hier wohl nur den Gipfel des Eisbergs.
Zentrale Hörverarbeitungs- und Hörwahrnehmungsschwächen, die bei einem nicht geringen Anteil unserer Schulanfänger in mehr oder weniger ausgeprägtem Maße vorliegen, sind eines der ganz wesentlichen Hindernisse auf dem Weg zum Lesen und Schreiben. Anders als motorische Entwicklungsverzögerungen oder Verhaltensauffälligkeiten werden diese diese Entwicklungsschwächen jedoch leider nur sehr selten rechtzeitig oder als eigentliche Hörwahrnehmungsschwächen bemerkt. Auditiv schwache Kinder gelten häufig statt dessen als minderbegabt, verhaltensgestört oder aufmerksamkeitsschwach - die Reaktion der Umgebung ist meist aus Sicht der Kinder unangemessen im Sinne von lediglich "mehr Druck' und führt allenfalls zu einer dann als sekundär zu bezeichnenden Verhaltensstörung. Diese Verhaltensstörungen unterliegen einer im Einzelfall gut verständlichen Psychodynamik, belasten den Schulalltag für alle ganz enorm und erschweren oder verhindern gar jede gezielte Förderung und Therapie.
Das Wissen um die Entstehung und Erscheinungsbilder von Hörwahrnehmungsschwächen bei Schulkindern ist Voraussetzung, will man diese Kinder in der eigenen Klasse erkennen, falls man nicht bereits durch die Schuleingangsuntersuchung auf die Risikokinder aufmerksam gemacht wurde. Diesen Kindern dann adäquat zu begegnen und sie nach Möglichkeit differenziert zu fördern, das ist sicher keine weitere vermeintliche Zusatzaufgabe für die Lehrkräfte. Im Gegenteil: hier haben wir es mit einer urpädagogischen Herausforderung zu tun, der man sich nicht entziehen kann, bei deren Bewältigung aber zumindest zwei lohnende Ziele winken. Zunächst entspannt sich die Situation für das einzelne auditiv schwache Kind und auch für die Lehrkraft, wenn diese weiß: "Hänschen kann unter bestimmten Bedingungen auch beim besten Willen nicht wirklich hören, was ich sage. Das hat nichts mit seiner Motivation oder meiner Unfähigkeit zu tun." Werden die sekundären Verhaltensprobleme auch nur teilweise verhindert, so dürften dies schon den Grundschulalltag deutlich entlasten. Zum anderen unterliegt die kindliche Hörwahrnehmung einem Reifungsprozess, der nicht mit Schulbeginn abgeschlossen ist. Bei sinnvoller Förderung können Defizite in diesem Bereich noch in erstaunlichem Maße aufgefangen werden und so mit dem Kinde eine echte Lern-Basis erarbeitet werden.
Dieser Beitrag soll den gegenwärtigen Erkenntnisstand zum Thema der zentralen Hörverarbeitungs- und Hörwahrnehmungsstörungen, vereinfachend hier .auditive Wahrnehmungsschwäche" genannt, aus schulärztlicher Sicht zusammenfassen, einen Ausschnitt der umfangreichen Literatur zum Thema vorstellen und schließlich Anregungen für den Schulalltag geben, die auch als solche verstanden werden möchten (vgl. N.Lauer: Zentral-auditive Wahrnehmungsstörungen im Kindesalter. Stuttgart 2001).
Grundlagen der auditiven Wahrnehmung und der Hörbahnreifung
Bei der auditiven Wahrnehmung handelt es sich eben gerade nicht um das bloße Registrieren eines akustischen Reizes - dieser Vorgang wird mit dem Begriff "peripheres Hören" bezeichnet und zum Beispiel mittels Hörtests überprüft. Im Gegensatz dazu beschreibt die zentrale Hörwahrnehmung" die aktive und komplexe Leistung des Kindes, das diesen akustischen Reiz aufnimmt und verarbeitet. Unter "phonologischer Bewusstheit" versteht man die Fähigkeit, Reime zu erkennen, Sätze in Worte und Worte in Silben zu zerlegen und schließlich Phoneme zu erkennen und zu unterscheiden.
Wenngleich man nicht mit dem Ohr alleine hört, so läuft doch hier der erste Schritt des Hörvorgangs ab. Das Trommelfell, das den Übergang vom äußeren zum Mittelohr markiert, wird durch die von uns als "Schall" empfundenen Druckwellen in Schwingungen versetzt. Diese Schwingungen sollen dann im Normalfall über die Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel an die Flüssigkeit weitergegeben werden, in der das akustische Endorgan, die Schnecke, schwimmt.
Dort entstehen elektrische Impulse, Aktionspotentiale genannt, die über die entsprechenden Nervenfasern, die so genannte Hörbahn, zu den jeweiligen Großhirnarealen gelangen. Auf diesem Wege sorgt ein ausgefeiltes System von Verschaltungen für eine Modulation der Informationen und eine Verknüpfung mit Wahrnehmungen aus anderen Bereichen.
Die Reifung der Hörbahn besteht in der Anlage und Stabilisierung dieser Nervenzellverbindungen, sie beginnt bereits vor der Geburt und endet nicht vor dem achten Lebensjahr. Viele Synapsen entstehen ungezielt, sie werden anschließend auf ihre Nützlichkeit hin überprüft. Nur die Verbindungen, die auch genutzt werden, bleiben bestehen. Alle anderen werden abgebaut! Die Hörbahnreifung ist also nur zum Teil genetisch vorgegeben. Ganz entscheidend sind in der sensiblen Phase die externen Reize, denen ein Kind ausgesetzt ist. Hörreize müssen in ausreichender Qualität und regelmäßig angeboten werden (Klänge, lebendige Sprache, Rhythmen, Melodien ... ).
Ein großes Risiko für die Entstehung einer auditiven Schwäche haben sicher schwerhörige Kinder, um so mehr, je später die Hörgeräteversorgung erfolgte. Für uns ist jedoch eine andere Kindergruppe bedeutsamer, weil zahlenmäßig sehr viel größer. Es ist die Gruppe der Kinder, bei denen das Mittelohr oft und manchmal sehr lange nicht ausreichend belüftet ist (sog. Paukenergüsse, nach Luftwegsinfekten, gehäuft bei Vorliegen von Polypen, leider nicht schmerzhaft und daher oft nicht erkannt). Diese Kinder hören immer wieder über längere Zeit nicht alle Frequenzen und entwickeln oft ein ernstzunehmendes Hörerfahrungsdefizit.
Schließlich besteht hier auch für die Gruppe der Kinder ein Risiko, mit denen niemand ausreichend spricht, klatscht, singt und denen niemand vorliest.
Besondere Schwierigkeiten haben und machen erfahrungsgemäß die Kinder, bei denen mehrere der genannten Risikofaktoren zusammentreffen und in deren häuslichem Umfeld die Resourcen oftmals ganz besonders begrenzt sind.
Schließlich sei darauf verwiesen, dass "Unaufmerksamkeit gegenüber Sprache" zugleich Ausdruck und Ursache einer auditiven Schwäche sein kann und die Entwicklungsbereiche der Hörwahrnehmung und der gezielten Aufmerksamkeit eng miteinander verbunden sind.
Kompensation als Sackgasse?
Kinder mit deutlich verzögerter expressiver Sprachentwicklung, mit erheblichen motorischen Problemen oder sehr unangemessenen Verhaltensstrategien fallen in der Regel bereits im vorschulischen Alltag auf. Sehr schwerwiegende auditive: Wahrnehmungsschwächen treten selten isoliert auf; bei mäßiggradigen Störungen ist das jedoch anders. Besonders sensible und sozial begabte Kinder haben oftmals erstaunliche Fähigkeiten zur Kompensation ihrer eingeschränkten Hörwahrnehmung entwickelt. Diese Mechanismen tragen im Vorschulbereich, im häuslichen Alltag und auch noch im Anfangsbereich der Grundschule, nämlich in der Regel, solange Wort und Handlung im engen Bezug stehen und konkrete Inhalte haben. "Zieht euch an, wir gehen raus" - hier unterstützen Gestik der sprechenden Person und Handlung der Altersgenossen den gesprochenen Inhalt. Das ändert sich, je abstrakter die Inhalte werden und je weniger an den Handlungen der anderen die Anweisung der Lehrerin ablesbar wird: "Schlagt Seite 13 auf und löst die oberen beiden Aufgaben im Heft“, eventuell erschwerend von hinten gesprochen und teilweise im Geräuschgarten der Mitschüler verschwunden - für ein auditiv schwaches Kind ist diese Anweisung u.U. nicht zu hören.
Die Kompensation einer bestehenden Schwierigkeit ist eine wichtige Leistung und muss dann trainiert und unterstützt werden, wenn es keine gute Alternative gibt. In Bezug auf die auditive Wahrnehmung jedoch führen die kindlichen Kompensationsstrategien in eine Sackgasse, weil sie die Erkennung des eigentlichen Problems erschweren.
Diese Strategien verlangen von den Kindern ungeheure Anstrengungen und führen spätestens ab der 2./3. Grundschulklasse nicht mehr zum Erfolg. So sind die Kinder massiv in der Schule und zu Hause für sie unangemessenen Reaktionen und fast immer einem sehr schnell steigenden Druck ausgesetzt und reagieren darauf zum großen Teil und völlig verständlich mit „Verhaltensauffälligkeiten" nach persönlicher Prägung.
Hinweise im Alltag auf auditive Schwächen
Selbstverständlich gibt es anamnestische Hinweise, erfragbare oder beobachtbare Verhaltensweisen, die den Blick auf eine eventuell vorliegende Hörwahrnehmungsschwäche lenken sollten:
Im Alltag oder in der vorschulischen Einrichtung:
- nicht konstante Hörreaktion im Säuglingsalter
- Richtungshörschwäche
- häufiges Nachfragen
- wenig angemessene Reaktion auf verbale Aufforderung
- übermäßige Empfindlichkeit gegenüber lauten Schallreizen
- häufige Missverständnisse
- vermindertes Verstehen bei mehreren Gesprächspartnern
Im Grundschulunterricht:
Die Kinder
- fallen oft erst in der 2./3. Klasse auf
- verstehen oft schlecht, obwohl der Hörtest "in Ordnung“ sei
- fragen oft nach, vor allem im Gruppengespräch
- lernen schlecht auswendig
- haben oft die Aufgabe oder Hausaufgabe nicht "mitbekommen“
- werden zunehmend verhaltensproblematisch
- bekommen Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben
- haben bei eventuell korrekter Artikulation einen eingeschränkten Wortschatz und Satzbau
- brauchen viel individuelle Ansprache und mehr Zeit für alle Aufgaben.